Ein psychologischer Blick auf die Folgen von „social distancing“

Die Kontaksperre bzw. das sogenannte social distancing hat große Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Leben. Viele Arbeitsprozesse sind gar nicht mehr oder nur noch in sehr veränderter Form möglich.

Leider ist der Begriff des social distancing sehr ungünstig gewählt. Denn es geht ja eigentlich „nur“ um körperliche Distanz und mitnichten darum auch sozial Abstand voneinander zu halten. Im Gegenteil – dies wäre fatal! Es ist die große Herausforderung dieser Zeit, die damit gleichzeitig drohende soziale Distanz zu verhindern. Denn nichts brauchen wir zur Zeit mehr als das Gefühl von Verbundenheit und Gemeinschaft – paradoxerweise gerade dadurch, dass wir körperliche Nähe vermeiden.

Was bedeutet es für unseren Körper und unsere Psyche einer Kontaktsperre unterworfen zu sein?

Körperlicher Abstand stresst

Die aktuelle Corona-Krise zwingt uns Menschen dazu, körperlich auf Abstand zu gehen. Unsere gewohnten, zum Teil ritualisierten Formen des Kontakts untereinander sind reduziert: Außerhalb der eigenen Familie ist kein Händeschütteln, keine Umarmungen o.a. Formen der Nähe mehr möglich. Viele Menschen sind dadurch verunsichert und gestresst. Denn es ist kognitiv anstrengend, diese meist unbewussten Routinen der Körperkommunikation aktiv zu kontrollieren. Daher kommt es auch immer wieder dazu, dass dies nicht hundertprozentig funktioniert und nicht weil die Menschen es nicht verstehen oder akzeptieren.

Darüberhinaus ist das Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt psychologisch existenziell und damit ist nicht sexueller Kontakt gemeint. Menschen haben ein tiefes Grundbedürfnis nach Beziehung und Anerkennung und Kontakt dient nunmal der Befriedigung dieser Bedürfnisse.

Der Psychotherapeut Bob Cooke geht in einem Artikel über beziehungsorientierte Therapie sogar noch weiter und schreibt, dass das „sich-beziehen“ auf einen bedeutsamen anderen oder andere notwendig ist für das eigene Wohlbefinden und sogar für die Anerkennung der eigenen Existenz.

In der direkten Arbeit mit Menschen erschweren die unterbrochenen oder eingeschränkten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme nicht nur die Befriedigung dieser Bedürfnisse sondern beeinflussen maßgeblich negativ die Qualität der Beziehung. Das erfahren zur Zeit wohl alle, die in care-Berufen arbeiten oder nur noch über Videogespräche kommunzieren. Die feinen Nuancen der Kommunikation zwischen den Zeilen, Mimik, Gestik, Körpersprache, das Vermitteln von Verständnis, Einfühlung, emotionaler Zuwendung, sind deutlich reduziert – wie gut kann hier noch „Verbindung“ hergestellt werden?

Zumindest erfordert es einen viel höheren Einsatz und Aufwand um zwischenmenschliche Kommunikationsprozesse wie Rückmeldung, Spiegeln, Vermitteln von Verständnis und Zustimmung gut zu gestalten. Das kostet Energie und erschöpft emotional und mental – ein Grund warum auch der Kontakt zu sich selbst und die Investition in die eigene Selbstfürsorge um so mehr im Vordergrund stehen sollte.

Mangelnder Körperkontakt kann krank machen

Der Mangel an Körperkontakt hat nach Ansicht des Haptikforschers Martin Grunwald auf längere Sicht negative Auswirkungen auf Körper und Seele. Als Säugetiere sind auch wir Menschen in sozialen Gemeinschaften organisiert und für ein gesundes Wachstum auf Körperkontakt angewiesen. Dazu sei nur auf die Studien mit Menschen verwiesen, die 1989 als völlig vernachlässigte rumänische Waisenkinder entdeckt wurden – der Mangel an adäquater Körperkommunikation hatte irreversible dramatische biologische und psychologische Folgen.

Körperkontakte mit emotional nahen Menschen haben biochemische Folgen, wie z.B. die Ausschüttung des Botenstoffs Oxytocin. Dadurch wird Stress abgebaut, der Mensch beruhigt sich. Auch im Gehirn haben Berührungsreize Auswirkungen: Die Stimulation der Hautsensoren führt zur Ausschüttung und körperweiten Verteilung von Botenstoffen, die angstreduzierend und entspannend wirken, Atmung und Puls verlangsamen. Letztlich wird auch das Immunsystem positiv beeinflusst.

Besonders betroffen sind hier natürlich vor allem allein lebende oder isolierte Menschen. Gleichzeitig bedeutet auch für in kleinen Gemeinschaften lebende Menschen die Situation eine Reduktion von Körperkontakt, wenn dieser nur noch innerhalb der Wohnzelle stattfinden kann.

Kompensation von Nähe

Laut Grunwald kann diese mangelnde taktile Stimulation zum Teil vorübergehend z.B. über Körperkontakt mit Haustieren, v.a. Säugetieren ausgeglichen werden. Auch andere Körperempfindungen der Haut bewusster wahrzunehmen, wie bspw. eine warme Dusche oder ein Sonnenbad ist laut Grunwald zumindest eine Ablenkung.

Darüberhinaus bleibt uns noch die Verlagerung von gefühlter Nähe auf andere Sinne. Akustisch und virtuell gemeinsam erlebte Situationen bekommen eine größere Bedeutung. Das zeigen auch die vielen Aktionen in der Social Media-Welt.

Die verstärkte Stimulation und positive Fokussierung von Sinnen kann generell einen kleinen seelischen Ausgleich schaffen. Wie bspw. das Riechen und Schmecken beim Kochen, die Kontemplation schöner Naturszenen, das haptische Erleben von Gartenarbeit, u.a. Es weckt positive Gefühle und lenkt auch ein bisschen ab.

Das wird den Mangel nicht ersetzen, ermöglicht jedoch evtl. die Verzögerung von ernsthaften psychischen oder körperlichen Folgen. Studien dazu fehlen aktuell noch – vielleicht eine Chance in der Krise.

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