Die im Blogartikel „So wirkt Natur auf uns Menschen“ beschriebenen positiven Effekte wirken bei einem Walk & Talk in der Natur bereits unterschwellig: Entspannung, Aufmerksamkeitserholung, Stimmungsaufhellung, Stressabbau, bessere Konzentrationsfähigkeit usw. schaffen ideale Voraussetzungen, um sich mit sich selbst zu beschäftigen. Daher profitieren Begleitungsprozesse wie Coaching und Psychotherapie allein schon von den physiologischen Wirkungen des Draußenseins.

Zusätzlich verändern sich auch die mentalen Voraussetzungen: Sich in der Natur zu bewegen, schafft ein Gefühl von Abstand zum Alltag. Es entsteht mehr Offenheit und Bereitschaft zu einem Perspektivwechsel. Der Kontrast zur Lebens- und Arbeitswelt stimuliert die Nutzung der rechten Gehirnhälfte, die für unsere Kreativität zuständig ist. Bei Bewegung in der Natur schwingen sich – wie bei einer tiefen Meditation –  beide Gehirnhälften auf gleichem Rhythmus im sogenannten Alphawellenbereich ein. Sie arbeiten ideal zusammen und steigern so unsere Fähigkeit zum Lösungsdenken.

Das Naturerleben aktiv in den Veränderungsprozess mit einzubeziehen, führt zu weiteren bedeutsamen Effekten:

So verändert sich bspw. die Beziehung zwischen Coach/Therapeut und Coachee/Klient: Statt der frontalen Gesprächssituation in der Praxis gehen und blicken beide in dieselbe Richtung und sind beide als Menschen der Natur ausgesetzt. Allein schon die lockere Bewegung kann das Ansprechen der eigenen Themen erleichtern.

Im therapeutischen Bereich finden sich verschiedene Ansätze der Einbindung von Natur. Ausgangspunkt ist dabei das Naturerleben als Selbsterleben. Die Therapeutin Sandra Knümann hat bspw. als sehr wirksames Ergänzungsverfahren zur Psychotherapie den Ansatz „achtsamkeitsbasierte Naturtherapie“ entwickelt. (s.a. hier). Es finden sich noch weitere wie z.B. die systemische Naturtherapie oder die integrative Naturtherapie sowie Garten-, tiergestützte Therapie oder Wildnistherapie (s.a. hier).

Natur in Beratung, Coaching und Psychotherapie
Bild von Martina Lender-Frase auf Pixabay

Pädagogische Konzepte wie die Erlebnis-, Natur- und Wildnispädagogik binden Natur schon lange als Wirk- und Lernfaktor in handlungs- und erlebnisorientierte Erfahrungsfelder mit ein. Nach dem Neurobiologen Gerald Hüther werden Lernen und Eigenverantwortung durch Naturkontakt unterstützt und „AHA-Momente“ gefördert, die meist am Anfang eines Lernprozesses stehen. Diese wiederum begünstigen sogenannte Flowerlebnisse – ein Zustand in dem eine optimale Relation zwischen Fähigkeit und Herausforderung besteht. Wiederkehrende Flow-Erlebnisse sollen laut Forschung das Empfinden von Zufriedenheit und Glück steigern.

Die systemische Prozessbegleitung nach Lindenthaler bspw. verknüpft systemische Pädagogik mit dem Erfahrungsraum Natur und setzt Wald(er)leben als zentrales Medium ein. Im Mittelpunkt steht hier das sogenannte „Elementare Arbeiten“, also Basistätigkeiten wie Campbau, Feuermachen, Orientierung u.ä., welche beim Draußenleben der Erfüllung der Grundbedürfnisse dienen und nicht nur direkte Auswirkungen haben, sondern sinnstiftend wirken können.

Die Erfahrung von äußerer Natur ist auch bedeutsam für die Entwicklung der inneren Natur des Menschen

Ulrich Gebhard

Der Schlüssel ist die Beziehung zur Natur

Im Gegensatz zu den physiologischen Wirkungen kann sich die pädagogische oder therapeutische Wirkung der Natur erst entwickeln, wenn der Mensch einen Zugang zu ihr findet, also mit ihr in Beziehung tritt.

Natur als Spiegel
Natur in Beratung, Coaching und Psychotherapie

Ein besonders wichtiger Faktor ist die starke Symbolik und die vielfältigen Metaphern von Naturräumen. Wir Menschen greifen gerne intuitiv nach Ausdrucksformen, die unseren eigenen Standort und und die eigenen Bedürfnisse symbolisieren. In der empirischen Psychotherapieforschung nimmt man an, dass Symbole die Funktion haben, Sinnstrukturen zu konstituieren und somit ein Zusammenhang besteht zwischen Symbolreichtum (v.a. Natursymbolisierungen) und psychischer Gesundheit.

Nach Ulrich Gebhard hat diese salutogenetische Perspektive von Naturerfahrung v.a. in deren Ambivalenz ihre besondere Bedeutung: denn die Natur ist voller (selbstverständlicher) widersprüchlicher Eigenschaften, angesichts derer die inneren Widersprüche der menschlichen Seele weniger bedrohlich, ja sogar aufhebbar erscheinen. Die Wahrnehmung lebendiger Prozesse in der Natur kann also helfen, sich über die Vorgänge in der eigenen Seele bewusster zu werden, denn diese verlaufen oft analog zu den Vorgängen in der Natur (z.B. sprachliche Analogien wie Aufblühen, Reifen, Fließen). Dadurch, dass die Natur einen geeigneten Resonanzraum für Analogien, Assoziationen und Denkanstöße bietet und eine große Projektionsfläche für inner-psychische Prozesse darstellt, wird sie zum Spiegel der Seele.

Natur als existenzielle Kategorie

Es geht für den Menschen darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, als Naturwesen evolutionär in natürliche Zusammenhänge eingebunden zu sein. Zu begreifen, dass man selbst ein Teil der Natur ist und in ihre Rhythmen und Zyklen eingebunden ist, schafft ein Gefühl von Geborgenheit und stärkt das Prinzip der Zugehörigkeit und des Verbundenseins. Naturerfahrungen in dieser Tiefe können heilsame korrigierende Erfahrungen im Bereich des Vertrauens zur Welt und zu den zugrunde liegenden Strukturen auslösen.

Die Allgegenwärtigkeit von Leben und Tod in der Natur stellt ein Bewusstsein für die eigene Endlichkeit her und kann helfen, die Bedeutung der eigenen Existenz sowie die Prioritäten im eigenen Leben neu zu überdenken. Dadurch steigen Authentizität und Lebensqualität.

Zum Anderen geht es darum, das eigene Leben nach diesem Bewusstsein auszurichten und damit sein Wohlbefinden selbst zu beeinflussen. Eine naturnahe und symbolisch bedeutungsvolle Umwelt unterstützt das sogenannte Kohärenzgefühl, also „die subjektive Überzeugung, dass das Leben verständlich, beeinflussbar und bedeutungsvoll ist“ (Ulrich Gebhard). Naturerfahrungen begünstigen also die Aktivierung von Selbstwirksamkeit.

Wir brauchen Naturverbindung

2017 haben psychologische Studien in China nachgewiesen, dass bei Kindern die Naturverbundenheit in direkter positiver Relation zu ihrer seelischen Gesundheit steht. Auch bekannt ist, dass das Gefühl von Naturverbundenheit das Selbstwertgefühl steigert und zwar besonders bei Menschen, die einen Sinn für die Schönheit der Natur haben. Der Grund liegt offenbar in der Evolution: schöne, natürliche Umwelten zeigten eher Nahrungsquellen an, wodurch ein ausgeprägtes Schönheitsempfinden vermutlich eher überlebenswirksam war. Des Weiteren scheinen Zusammenhänge zwischen dem Sinn für Naturschönheit und Lebenszufriedenheit sowie Gerechtigkeits- und Fairnessempfinden zu bestehen.

Existenziell ist auch die Entstehung von Wertigkeit. Das subjektive Empfinden von Naturverbundenheit geht als wichtiger Teil des Selbstkonzepts einher mit der Entstehung eines ökologischen Bewusstseins. Außerdem fördert die Naturerfahrung das Erleben von Autonomie, die Abnahme selbstbezogenem Verhaltens und damit die Entwicklung von sozialem Bewusstsein. Aus der Forschung ist bekannt, dass das Erleben von Lebendigem in der Natur die Fähigkeit Empathie, also Mitgefühl, zu entwickeln unterstützt, weil die dafür im Gehirn zuständigen Spiegelneuronen aktiviert werden.

Es tut uns also gut in eine Verbindung zur Natur zu gehen und eine positive Beziehung zu ihr zu pflegen, weil wir damit eine positive Beziehung zu uns selbst herstellen.

Wer den Weg zur Natur findet, findet auch den Weg zu sich selbst.

Klaus Enden

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