Im Dezember haben viele Menschen eine hohe Dichte an Anforderungen.
Allein durch die Verkürzung des Monats durch das Weihnachtsfest, das anstehende Jahresende sowie Ferien- und Urlaubsbeginn ist das Programm oft vollgepackt.
Dazu kommen nicht selten Erkältungs- und Grippewellen.

Oft erlebe ich, dass die erlebte Erschöpfung individualisiert wird, also stillschweigend als persönliches Versagen gedeutet wird: „Ich bin nicht belastbar genug“, „Ich habe nicht genug für mich getan, damit ich das alles gut aushalte“.
Vielleicht kennst du solche Gedanken auch von dir?

Ich möchte dich hier zu einem Perspektivwechsel einladen:
Betrachte diese Situation einmal im Kontext statt als persönliches Defizit.
Was, wenn deine Erschöpfung gerade keine Schwäche, sondern eine stimmige Reaktion ist?

Körper und Nervensystem: Anpassung statt Versagen

Licht ist ein zentraler Regulationsfaktor für uns.
Verkürzte Tageslichtphasen wirken sich direkt auf Wachheit, Stimmung und Energie aus.
Biologisch betrachtet sind Rückzug und ein geringeres Aktivitätsniveau alte evolutionäre Anpassungsmechanismen des Menschen an winterliche Lebensbedingungen.

In unserer modernen Lebensrealität ignorieren wir diese Signale häufig.
Wir leben, als müssten wir unabhängig von Jahreszeit und Lichtverhältnissen gleich leistungsfähig funktionieren – und verlieren dabei den Kontakt zu der Natur, die wir selbst sind.

Was wir erleben, sind keine Defizite, sondern Regulationsversuche eines Systems, das sich an veränderte Bedingungen anpasst.

Rhythmus & Tempo: warum der Dezember paradox ist

Was wir im Dezember oft erleben, bringt unser System in ein Spannungsfeld:
Außen Verdichtung, Termine, Abschlussdruck – innen das Bedürfnis nach Verlangsamung.

Das Nervensystem versucht, zwischen Anpassung und Übersteuerung zu regulieren.
Häufig entsteht dabei eine chronische Aktivierung statt natürlicher Regulation – mit Erschöpfung, Müdigkeit, Rückzugsbedürfnis oder Reizbarkeit als Folge.

Selbstführung beginnt hier nicht mit Optimierung, sondern mit dem ernsthaften Wahrnehmen dieser inneren Dynamiken.

Was würde es verändern, diese Signale als Regulationsversuche zu verstehen statt als Faulheit, Unlust oder mangelnde Professionalität?
Vielleicht geht es gerade nicht darum, noch mehr zu tun oder sich weiter zu optimieren, damit „es“ wieder klappt.

Der Körper ist schneller als der Verstand

Unser Nervensystem reagiert lange, bevor wir kognitiv einordnen können, was geschieht.
Regulation geschieht implizit – nicht über Einsicht.
Deshalb hilft es oft nicht, Symptome „wegzudenken“ oder kontrollieren zu wollen.

Sinnvoller ist es, den Körper als frühes Orientierungssystem anzuerkennen und ernst zu nehmen.

Wenn der Körper auf diese Weise reguliert, entsteht häufig das Bedürfnis nach Einordnung.
Etwas in uns möchte verstehen, was gerade geschieht – nicht um es zu verändern, sondern um innerlich Halt zu finden.

Genau hier berührt die körperliche Ebene die psychologische.

Oft entsteht Halt nicht allein durch Verstehen, sondern im Kontakt – mit sich selbst oder in einer tragfähigen Beziehung.

Übergänge wahrnehmen: Wie Containment entsteht

Aus psychologischer Perspektive geben Übergänge innere Orientierung.
Sie markieren, dass etwas endet und etwas beginnt.
Ohne solche Markierungen bleibt Veränderung diffus – und wir reagieren schneller aus Anspannung oder dem Bedürfnis nach Kontrolle.

Psychologisch ist das relevant, weil das Nervensystem Vorhersehbarkeit liebt. Markierungen reduzieren Unsicherheit – auch dann, wenn sich an den äußeren Anforderungen nichts sofort ändert oder wir nichts aktiv verändern können. Übergänge bewusst wahrzunehmen hilft, Veränderung zu integrieren. Es entsteht mehr innere Stabilität – mehr Containment.

Containment beschreibt einen haltgebenden inneren (und oft auch äußeren) Rahmen.
Er ermöglicht, Gefühle wahrzunehmen, zu halten und einzuordnen – Containment ist damit eine zentrale Grundlage für Selbstregulation und emotionale Stabilität.

Fehlen Übergänge, entsteht leicht ein Gefühl von Getrieben-Sein:
Schwierigkeiten abzuschließen, anhaltende innere Aktivierung, erhöhte Reizoffenheit oder Erschöpfung.

In der Transaktionsanalyse wird dies unter anderem über das psychologische Grundbedürfnis nach Struktur beschrieben.
Ein Blick auf unsere Lebensabläufe – zeitlich wie sozial – zeigt, wie sehr Übergänge Orientierung geben.

Die bewusste Wahrnehmung von Übergängen – im Kleinen wie im Großen – kann psychisch viel bewirken:
weniger innere Unruhe, mehr Selbstkontakt, ein besseres Einordnen von Emotionen und das Erleben von Stimmigkeit statt reinen Funktionierens.

Es geht im Prinzip um Achtsamkeit: Wahrnehmen statt Bewerten. Präsenz vor Veränderung. Statt Dir zu sagen: „Ich sollte anders fühlen“ erkenne an, was ist.

Die Natur bietet klare Markierungen für Veränderung: Jahreszeitenwechsel und Sonnenwenden sind äußere Übergänge, die Struktur geben.
Menschen haben sich über Jahrtausende daran orientiert – und das wirkt bis heute in uns.

Wenn wir diesen Kontakt bewusst gestalten, wird ein nachvollziehbarer Übergang von „Tun“ zu „Sein“ möglich.

Naturbeziehung als Kompass für innere Ordnung

Eine äußere Übergangsmarkierung wie die Wintersonnenwende kann so inneren Halt geben.
Die Natur markiert hier einen Wendepunkt klar – etwas, das wir im Dezember oft nicht bewusst gestalten.
Ohne diese Markierung bleiben viele Menschen in Daueranspannung und innerer Unruhe.

Die Natur wird damit zu einem wichtigen Referenzrahmen und die eigene Naturbeziehung zu einem verlässlichen inneren Bezugspunkt – einem Kompass für innere Orientierung.

Mini-Praxisimpuls: Übergang wahrnehmen

Es geht nicht darum, Antworten zu finden oder etwas zu lösen. Oft reicht Wahrnehmen.

Nimm dir einen kurzen Moment – ohne etwas verändern zu wollen.

Vielleicht magst du dir eine oder zwei dieser Fragen stellen:

  • Was fühlt sich in meinem Körper gerade nach Ende an?
  • Wo spüre ich ein Bedürfnis nach Verlangsamung oder Rückzug?
  • Was beginnt – ganz leise – sich neu zu ordnen?

Übergänge bewusst wahrzunehmen ist kein Luxus.
Es ist eine Form von Selbstführung und Selbstfürsorge.

Die Wintersonnenwende lädt nicht zu mehr Tun ein.
Sie erinnert daran, dass Wandel geschieht – und dass wir ihm innerlich Raum geben dürfen.

Gerade in Zeiten hoher Belastung können solche bewussten Übergänge eine wichtige Ressource für psychische Stabilität und innere Orientierung sein.

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